Am 1. September 2025 hätten dutzende junge Männer aus dem Sudan, Bangladesch und Ägypten in Chania, Kreta vor Gericht stehen sollen. Doch keiner der angekündigten Prozesse fand statt: Die meisten Verfahren wurden verschoben, und einige der Angeklagten unterzeichneten unter hochproblematischen Umständen Schuldbekenntnisse im Austausch gegen niedrigere Strafen („Plea Deals“).
Kriminalisierung von Migration
Alle Angeklagten waren zuvor kriminalisiert und inhaftiert worden, weil sie angeblich während ihrer Überfahrt von Libyen nach Kreta das Boot gesteuert oder eine andere Rolle übernommen hatten. Dieses Vorgehen ist Teil einer systematischen Verfolgung von Migrierenden, die sich überall an den europäischen Außengrenzen beobachten lässt.
Zwischen Verhaftung und Gerichtstermin lagen für die meisten der Angeklagten fünf bis sieben Monate Untersuchungshaft – Monate, die sie unschuldig in überfüllten Gefängnissen verbringen mussten. Die erneuten Verschiebungen bedeuten, dass die Angeklagten weitere Monate unschuldig in Haft bleiben – fern von ihren Familien, von denen einige nach Kreta gereist waren, um auszusagen, jedoch nicht einmal ihre Angehörigen im Gerichtssaal begrüßen durften. Für viele bedeutet das eine weitere Zerstörung des Familienlebens.
Strukturelle Rechtsverletzungen in Strafprozessen
Zahlreiche Aktivist*innen und Journalist*innen warenim Gerichtssaal anwesend, um die Angeklagten zu unterstützen. Obwohl diese Öffentlichkeit formal zugelassen wurde, war es unmöglich den Prozessen zu folgen, da keine Mikrofone eingesetzt wurden. Die Verschiebung der Prozesse wird es den Unterstützer*innen zusätzlich erschweren, die nun auf verschiedene Daten verteilten Prozesse zu begleiten.
Besonders skandalös war das Fehlen von qualifizierten Übersetzerinnen. In einem Fall wurden Verfahren direkt vertagt, in anderen musste ein arabischsprachiger Gefangener, in Handschellen, als Übersetzer einspringen – ein klarer Bruch internationaler Standards, insbesondere gegen das Recht auf ein faires Verfahren. Ohne unabhängige Übersetzung wissen die Angeklagten oft weder, wessen sie genau beschuldigt werden, noch was im Gericht besprochen wird oder welche Folgen eine Unterschrift unter ein Geständnis haben kann.
Schwere Rechtsverletzungen zeigten sich auch bei der Verteidigung. Die meisten Pflichtverteidiger*innen sprachen erst kurz vor oder sogar erst im Gerichtssaal das erste Mal mit den Angeklagten. Kenntnisse der Akten oder der individuellen Situationen waren kaum vorhanden. Immer wieder konnten wir beobachten, wie die Angeklagten gezielt dazu gedrängt wurden, Plea Deals zu unterzeichnen – oft ohne ausreichende Erklärung, ohne Übersetzung und ohne Bedenkzeit.
Geständnisse unter Druck: Auswirkungen auf Asyl und Aufenthalt
Plea Deals sind Vereinbarungen, bei denen der Angeklagte sich im Gegenzug für eine reduzierte Strafe schuldig bekennt. Sie mögen für die Angeklagten wie die bessere Wahl oder für überlastete Gerichte wie eine schnelle Lösung erscheinen, haben jedoch für die Betroffenen fatale Folgen. Wer sich unter Druck schuldig bekennt, nimmt nicht nur eine Strafe auf sich, sondern verbaut sich langfristig Zukunftsperspektiven: Das Geständnis kann dazu führen, dass Asylanträge abgelehnt werden, ein Aufenthaltstitel unerreichbar wird oder die Möglichkeit, in bestimmten Bereichen zu arbeiten, verloren geht.
Der Tag in Chania macht einmal mehr deutlich, wie Migrierende in Europa systematisch kriminalisiert und ihrer Rechte beraubt werden. Jeder Tag hinter Gefängnismauern ist verlorene Zeit, jeder Aufschub eine zusätzliche Verletzung. Was hier sichtbar wird, ist keine Ausnahme, sondern Ausdruck eines Systems, das Geflüchtete entrechtet, sie als „Schmuggler*innen“ stigmatisiert und damit sowohl ihre Freiheit als auch ihre Zukunft zerstört. Unsere Solidarität gilt den Betroffenen und ihren Familien – und wir werden an ihrer Seite bleiben, bis diese Gefängnisse Geschichte sind.